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Bei der WTO wird das Recht auf Nahrung weggehandelt

03.01.12 Editorial
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Das einzig Bemerkenswerte auf der WTO-Ministertagung am 15.-17. Dezember war die Tatsache, dass sie dem WTO-Generaldirektor , Pascal Lamy, Gelegenheit bot, den UN-Sonderberichterstatter über das Recht auf Nahrung, Olivier de Schutter, zu attackieren. De Schutters Informationsnotiz für die Tagung forderte grundlegende Änderungen der WTO-Regeln, um den Mitgliedstaaten den Spielraum für die Erfüllung ihrer Verpflichtung zu verschaffen, das Recht auf Nahrung sicherzustellen. „Die WTO“, so schrieb De Schutter, verfolgt weiterhin das überholte Ziel einer Ausweitung des Handels um seiner selbst willen, statt mehr Handel nur insoweit zu fördern, als er das Wohl der Menschen steigert. Sie behandelt der Ernährungssicherheit dienende Politiken daher als unwillkommene Abweichungen von diesem Pfad.“

Lamys Antwort (nur auf Englisch (auf der WTO-Website fälschlicherweise als „Zurückweisung“ bezeichnet) zeigt, wie wahr diese Kritik ist.

Lamys Verteidigung der Organisation, die er führt , beruht auf drei Behauptungen. Alle drei sind gänzlich selbstreferenziell und enthalten keine einzige Bezugnahme auf die Realität, die De Schutters Ansatzpunkt ist, nämlich dass die Zunahme des Handels mit Agrarerzeugnissen nach dem WTO-Regime mit zunehmender Ernährungsunsicherheit Hand in Hand gegangen ist und dass die derzeitigen Welthandelsregeln insofern Teil des Problems sind, als sie die Fähigkeit der Entwicklungsländer einschränken, die einheimische Nahrungsmittelerzeugung zu schützen und zu fördern.

Erstens, erklärt Lamy, kann es nicht stimmen, dass die WTO-Regeln das Recht auf Nahrung verletzen, da das Recht auf Nahrung im WTO-Übereinkommen über die Landwirtschaft  (AoA) „erwähnt“ und dort darauf „verwiesen“ wird. „Die Regierungen „, stellt er fest, „haben ein souveränes Recht, im Rahmen ihrer internationalen Verpflichtungen Politiken zu verfolgen, um Ernährungssicherheit zu erreichen“. Bezugnahmen und Erwähnungen ernähren jedoch niemanden, und sie sind auch keine Antwort auf De Schutters Forderung, die Auswirkungen der Regeln, die dieser Vertrag vorschreibt, in der realen Welt zu untersuchen.

Ausserdem haben die Regierungen nicht nur ein souveränes Recht, Politiken zur Förderung der Ernährungssicherheit zu verfolgen. Ihre internationalen Verpflichtungen im Bereich der Menschenrechte verpflichten sie dazu, dieses  Politikziel zu verfolgen und konkret zu handeln, um die fortschreitende Verwirklichung dieses grundlegenden Menschenrechts sicherzustellen. Das ist die Bedeutung des Rechts auf Nahrung: es ist ein Recht, das in Bezug auf „andere“ (sprich „kommerzielle“) internationale Verpflichtungen nicht eingeschränkt, begrenzt oder untergeordnet werden kann.

Zweitens, fährt Lamy fort, ist die Behauptung falsch, dass Länder die übermässige Abhängigkeit vom Handel mit Agrarerzeugnissen möglicherweise beschränken müssen, um ihren Verpflichtungen im Bereich der Ernährungsrechte nachzukommen. Der Beweis dafür ergibt sich daraus, dass Organisationen wie der IWF, die Weltbank, die OECD, die FAO und die WTO selbst dies gesagt haben.

Fall es noch eines weiteren Beweises bedarf, erinnert uns Lamy daran, dass „unsere Mitglieder tatsächlich Verhandlungen führen im Hinblick auf gleichere Startbedingungen in der Landwirtschaft, um ihre Fähigkeit, Ernährungssicherheit zu erreichen, zu verbessern.“ Mit dieser Aussage wird das Problem, das De Schutter untersucht, erneut aufgeworfen, nämlich ob in der realen Welt der vermehrte Handel mit Agrarerzeugnissen sich in grösserer Ernährungssicherheit niedergeschlagen hat, und wenn nicht, was zu tun ist.

So sieht die Welt nach Lamy aus:“ Wenn Handel Teil einer kohärenten makroökonomischen und strukturellen Wirtschaftsstrategie ist, tendieren die Ressourcen zu einer auf dem komparativen Vorteil beruhenden Allokation, wodurch Ineffizienzen begrenzt werden. Als Reaktion auf eine verbesserte Übertragung von unverzerrten Preissignalen passen wettbewerbsfähige Produzenten ihre Produktions- und Investitionsentscheidungen an. Diese angebotsseitige Reaktion trägt dazu bei, den Preisdruck abzuschwächen, und sorgt somit für eine verbesserte Verfügbarkeit von erschwinglichen Nahrungsmitteln.“

Lamys schaler Aufguss von Freihandelsklischees kann mit einigen Retuschen den „komparativen Vorteil“ der Handels- und Verarbeitungsgiganten erklären, die den Welthandel mit Agrarrohstoffen beherrschen. Er kann aber nicht die zunehmende Nichtverfügbarkeit von erschwinglichen Nahrungsmitteln erklären.

„Auf dem Papier sieht das vielleicht wie Ernährungssicherheit aus“, erklärt De Schutter in seiner Antwort (nur auf Englisch) an Lamy, „das ist aber ein Ansatz, der auf spektakuläre Weise gescheitert ist. Die Realität vor Ort ist, dass verletzliche Bevölkerungen unter endemischem Hunger und endemischer Armut leiden.

Aufgrund ihrer Natur kann die WTO für die sozialen Verwüstungen , die durch das derzeitige Handelsregime verursacht werden, keine Rechenschaft ablegen. Die Landwirtschaft wird nicht als eine Quelle des Lebensunterhalts, sondern als eine Quelle handelbarer Güter angesehen. Die WTO-Regeln verlangen, dass die eigentlichen Fragen, die der Ernährungskrise zugrunde liegen, ausgeblendet werden. Die Fragen, die von De Schutter in seiner Antwort an Lamy erneut aufgeworfen werden „Wer produziert für wen, zu welchem Preis, unter welchen Bedingungen und mit welchen wirtschaftlichen, sozialen und ökologischen Folgen“, sind  nach den WTO-Regeln unzulässig.

Lamys doktrinäre Wiederholung von Lehrbuchformeln kann die Existenz einer massiven Sozial- und Umweltkrise, die unter anderem in dem weltweit zunehmenden Hunger starken Ausdruck findet, nicht anerkennen.  Tatsächlich kommt das Wort „Hunger“ in seinem Schreiben an De Schutter nicht vor. Er kann nicht erklären, weshalb die Hälfte der zunehmenden Zahl von hungernden Menschen Nahrungsmittelerzeuger sind, weil er die Frage Warum? Nicht stellen kann.

Er kann nicht erklären, weshalb die „effiziente Preisallokation“ den am wenigsten entwickelten Ländern mit Nahrungsmitteldefizit seit Bestehen der WTO  eine 600%ige Verteuerung ihrer Nahrungsmitteleinfuhren beschert hat. Seine einzige Antwort auf die von der FAO prognostizierte Rekordzunahme der Kosten  der Entwicklungsländer für die Einfuhr von Getreide im kommenden Jahr ist der Ruf nach mehr von den gleichen fehlgeschlagenen Politiken.

Ein Blick auf die erklärten Ziele und das Kleingedruckte der AoA bestätigt dies und führt uns zu Lamys dritter Behauptung, dass die AoA den Regierungen politischen Spielraum für das Streben nach Ernährungssicherheit bietet. Auch hier stärkt er nur De Schutters Argumente. Der „breite Spielraum“ der Entwicklungsländer für die Verfolgung von Zielen im Bereich der Ernährungssicherheit existiert nur in den vom WTO-Sekretariat erstellten Papieren. Als Beispiel führt er die Green-Box des AoA an ( die zulässige Subventionen definiert), die Green-Box wurde aber eigens geschaffen, um laufende Subventionen an grosse Erzeuger zu ermöglichen, die die globalen Märkte mit billigen Einfuhren überschwemmen. Sie ist ihrer Natur nach mit nationalen Programmen zur Stärkung der einheimischen Produktion durch Regulierungs- und Schutzmassnahmen unvereinbar. Der strategische Einsatz von Getreidereserven zur Abfederung der Preisvolatilität ist laut Lamy zulässig, aber nur im Rahmen der Nahrungsmittelnothilfe, nicht als Mittel einer „handelsverzerrenden“ Regulierung. So sind die Rohstoffhandelsgiganten die Herren über die Weltnahrungsmittelreserven – das schreibt die WTO aber natürlich vor.

De Schutter spricht sich nicht „gegen“ den Handel aus, eine ebenso absurde wie sinnlose These, und er befürwortet auch keine völlige Autarkie auf dem Gebiet der Nahrungsmittelerzeugung. Er fordert eine Überprüfung und eine Neufassung der Handels- und Investitionsregeln, die die Fähigkeit vieler Länder zerstört haben, ihren derzeitigen und künftigen Nahrungsmittelbedarf durch eine höhere einheimische Produktion zu decken, sodass sie gegenüber steigenden und zunehmend volatilen Nahrungsmittelpreisen höchst anfällig sind.

Er hat recht. Ähnliche Kritik an der Rolle der WTO beim Untergraben der Ernährungssicherheit wird seit langem von der IUL und vielen anderen Kritikern des Welternährungssystems geäussert. Was Lamy eindeutig verärgert hat, ist die Tatsache, dass De Schutter, obwohl er ein unabhängiger Experte ist, seine Kritik von innerhalb des Systems der Vereinten Nationen äussert. De Schutter hat bei der Propagierung des Rechts auf Nahrung auch nachdrücklich auf die Relevanz der IAO-Übereinkommen  und der Arbeitnehmer/innenrechte hingewiesen.“ Das Recht auf Nahrung ist keine Ware, und wir müssen aufhören, es so zu behandeln“, schreibt De Schutter. Die Arbeiterbewegung sollte seine Arbeit lautstark und nachhaltig unterstützen.

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IUL-Veröffentlichungen zur WTO und zum Welternährungssystem sind hier zugänglich

Veröffentlichungen und andere Dokumente des UN-Sonderberichterstatters über das Recht auf Nahrung sind hier zugänglich nur auf Englisch einschliesslich des ausgezeichneten Berichts über Agribusiness und das Recht auf Nahrung (nur auf Englisch, Französisch und Spanisch)