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Was in der griechischen Krise wirklich auf dem Spiel steht

01.07.15 Editorial
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Die 'Institutionen' haben aufgrund des Beschlusses der Regierung, am 5. Juli ein Referendum über die Bedingungen der Rettung abzuhalten, neue Massnahmen getroffen, um die griechische Wirtschaft in den Ruin zu treiben. Bei den Verhandlungen ist es nie um wirtschaftliche Fragen gegangen, sondern um einen Regimewechsel – und die Beseitigung der Gefahr einer möglichen politischen Ansteckung anderswo in Europa.

Ein Gespenst geht in Europa um – das Gespenst einer demokratischen Alternative zur Austerität. Die Syriza-Regierung Griechenlands verkörpert diese Alternative, und das ist der Grund, weshalb die Europäische Kommission und die Europäische Zentralbank (EZB) sich mit dem IWF verbündet haben, um die damit verbundene Herausforderung zu bannen. Bis auf wenige Ausnahmen haben politische Parteien jeder Couleur stillschweigend oder aktiv die Anti-Syriza-Koalition unterstützt.

Seit ihrem Wahlsieg im Januar hat sich die Syriza-Partei vergeblich bemüht, eine Erleichterung der ruinösen Sparmassnahmen auszuhandeln, die den vorherigen Regierungen aufgezwungen worden sind, ein Programm, das wirtschaftliche und soziale Schäden angerichtet hat, die normalerweise nur mit Kriegszeiten in Verbindung gebracht werden, das eine Erholung in die ferne Zukunft gerückt hat und das die Schuldenlast vergrössert hat.

Die Regierung hat trotz ihrer Versprechungen, die Sparmassnahmen zu beenden, alle im Land verfügbaren Mittel zusammengekratzt, die Ausgaben gekürzt, um einen Haushaltsüberschuss zu erreichen, und ihre Zahlungsverpflichtungen gegenüber ihren Gläubigern erfüllt. Die Kommission, die EZB und der IWF (die jetzt als 'die Institutionen' statt als die Troika bezeichnet werden) haben vom ersten Tag an klargestellt, dass ein Schuldenabbau, die einzige realistische Lösung für die Dauerkrise, nicht auf dem Tisch lag. Während die Regierung sich geduldig um Verhandlungen bemühte und sogar einer Fortsetzung der ruinösen Rettungsmassnahmen unter Bedingungen zustimmte, die der Wirtschaft weitere Milliarden Euro entzogen hätten, stiessen ihre Vorschläge auf Ablehnung, Verachtung und Beleidigungen.

Die 'Institutionen' weisen zynisch jegliche Verantwortung für den vorhersehbar massiven Zusammenbruch der Wirtschaft zurück. Begrenzte staatliche Massnahmen, um den schwächsten Teilen der Bevölkerung eine Grundversorgung mit Lebensmitteln und den fortgesetzten Zugang zur Stromversorgung zu gewährleisten, wurden als unannehmbarer 'Alleingang' verurteilt. Für den Kommissionspräsidenten Jean-Claude Juncker, der sich zuvor nur dadurch ausgezeichnet hat, dass er Luxemburg als Steueroase für multinationale Konzerne etabliert hat, ging kein griechischer Steuervorschlag weit genug. Vorschläge Griechenlands, Rumpfsysteme für Kollektivverhandlungen und soziale Sicherung aufrechtzuerhalten, wurden wiederholt verurteilt. Die EZB löste eine Kapitalflucht und einen Ansturm auf die Banken aus, indem sie den Zugang der Banken zu Krediten begrenzte und gleichzeitig gerade genug Liquiditätshilfen bereitstellte, um permanenten Druck aufrechtzuerhalten.

Jetzt haben die 'Institutionen' aufgrund des Beschlusses der Regierung, am 5. Juli ein Referendum über die Bedingungen der Rettung abzuhalten, neue Massnahmen getroffen, um die griechische Witrschaft in den Ruin zu treiben. Das Ziel besteht darin, die Herrschaft der Banken und der sogenannten Technokraten (die in Wirklichkeit sehr politisch ausgerichtet sind) zu verstärken und den Bürgern Griechenlands klar zu machen,dass sie sich nicht ausmalen dürfen, die Macht der Hochfinanz anfechten zu können.

Die einfache Tatsache ist, dass die als Austerität bezeichnete soziale Barbarei niemals das Ergebnis hervorbringen konnte, das damit vordergründig erzielt werden sollte.

Bei den Verhandlungen ging es nie um wirtschaftliche Fragen, sondern um einen Regimewechsel - und um die Beseitigung der Gefahr einer möglichen politischen Ansteckung anderswo in Europa.

Im Jahr 1953 kamen Deutschlands Gläubiger auf der Konferenz in London überein, die Hälfte der hohen Vorkriegsschulden Deutschlands abzuschreiben und die Rückzahlung des Rests davon abhängig zu machen, dass Deutschland als Folge der Erwirtschaftung eines Handelsüberschusses zahlungsfähig ist. Kein Überschuss, keine Zahlungen. Die Londoner Vereinbarung war politisch motiviert; sie sollte Deutschlands Stellung im Kalten Krieg stärken. Der Beschluss, eine Linksregierung in Griechenland zu untergraben, ist ebenso politisch motiviert. Die im Verlauf der sechsmonatigen Verhandlungen ständig wiederholte Behauptung, dass Europa einen griechischen Zahlungsausfall und einen Ausstieg aus dem Euro verkraften kann, kann auf den Kopf gestellt werden. Europa kann eine erhebliche Abschreibung der griechischen Schulden verdauen – tatsächlich wäre sie für alle Beteiligten von Nutzen - , aber die 'Institutionen' sind entschlossen, eine politische Lektion zu erteilen, und nicht nur Griechenland.

Im gesamten Verlauf der Verhandlungen hat die Regierung ihre Position geduldig und bisweilen eloquent verteidigt. Ihre Vorschläge für begrenzte Massnahmen, um Arbeitnehmer, Rentner und die Armen vor den katastrophalen Folgen einer beispiellosen Depression zu schützen, wären vor drei Jahrzehnten als sehr gemässigte Form des Keynesianismus erschienen. Dass sie jetzt als Bedrohung der europäischen Ordnung gebrandmarkt werden, sagt uns sehr viel über diese Ordnung und die Krise der europäischen und der globalen Politik. Syrizas Wahlsieg hat die potenzielle Stärke einer breiten Bewegung der Linken vor Augen geführt, die bereit ist, den Status quo anzufechten. Solidarität ist jetzt wichtiger als je zuvor, damit Syriza den Kampf fortsetzen kann. Die Gewerkschaften sollten diese Solidarität organisieren.