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Was nun für Algerien?

14.03.19 Editorial
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Dieser Artikel wurde am Morgen des 11. März verfasst. Am Abend desselben Tages verkündete die algerische Regierung, dass Präsident Bouteflika nun doch nicht für eine fünfte Amtszeit kandidieren werde. Die Präsidentschaftswahlen sollen nun erst im Anschluss an eine nicht näher definierte „nationale Konferenz“ stattfinden. Bis dahin bleibe Bouteflika noch im Amt. An der unten beschriebenen Lage ändert sich somit nichts.
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Seit dem 22. Februar gehen in Algerien immer mehr Menschen auf die Straße, um friedlich gegen die erneute Kandidatur von Präsident Abdelaziz Bouteflika bei den Präsidentschaftswahlen zu demonstrieren, die für den 18. April geplant waren. Eine Wiederwahl würde eine fünfte Amtszeit Bouteflikas bedeuten. Um die von Studierenden angeführten Proteste zu schwächen, wurden die universitären Frühlingsferien vorgezogen. Immer mehr Arbeiterinnen und Arbeiter beteiligen sich an einer Streikbewegung, die bereits in vielen Teilen des Landes Geschäfte und Verkehrsmittel lahmgelegt hat. Die IUL-Mitgliedsgewerkschaft SNATEG, eine unabhängige Gewerkschaft für Angestellte des staatlichen Energieversorgers SONELGAZ, hat am 10. März zu einem Generalstreik aufgerufen.

Die spontane Protestwelle, ausgelöst durch die blinde Arroganz der herrschenden Klasse, scheint den Machtzirkel um Präsident Bouteflika völlig überrumpelt zu haben – wie es in solchen Situationen nur allzu oft der Fall ist. Einige zentrale Akteure des Systems haben erste zögerliche Schritte getätigt, um sich von einem Phantompräsidenten zu distanzieren, der sich bereits seit Jahren nicht mehr in der Öffentlichkeit gezeigt hat. Hierzu zählt zum Beispiel der staatliche Gewerkschaftsbund. Ihr Ziel ist es, die wichtigen Elemente der Macht über die Krise hinwegzuretten: „Bouteflikismus“ ohne Bouteflika.

Die algerische Bevölkerung fordert mehr als nur ein neues Gesicht. Sie fordert das Ende dessen, was gemeinhin als le pouvoir bezeichnet wird: „die Macht“ – ein System, das sich symbolisch den Unabhängigkeitskampf zu eigen gemacht hat, für seine Bürgerinnen und Bürger allerdings seit Jahrzehnten lediglich ein Leben in Armut, Erniedrigung und Hoffnungslosigkeit bereithält.

Der Ausgang der aktuellen Lage ist mehr als ungewiss. Die Position des Militärs und der Sicherheitsbehörden ist bisher noch undefiniert. Die verschiedenen Oppositionsparteien verfügen nicht über ausreichende Glaubwürdigkeit. Es ist nun an der demokratischen Zivilgesellschaft, diesen langen und schwierigen Prozess zu lenken. Zu diesen zivilen Akteuren zählen auch die unabhängigen Gewerkschaften, die seit vielen Jahren eine wichtige Rolle für demokratische Opposition spielen.

Mitglieder unabhängiger Gewerkschaften müssen in Algerien ihr Engagement seit Langem mit Schikane, Überwachung, Festnahmen, Geldstrafen, Entlassungen und Gefängnisaufenthalten bezahlen. Und doch kämpfen sie weiter. Dies führt uns wirkungsvoll vor Augen, dass der Einsatz für die Demokratie die Grundlage der Arbeiterbewegung ist – überall auf der Welt. Die unabhängigen Gewerkschaften in Algerien benötigen gerade jetzt, in diesem für sie möglicherweise historischen Moment, unsere volle Unterstützung.