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Kampf gegen Europas autoritäres Virus: Der Fall Ungarn

06.05.20 Editorial
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In den 10 Jahren, seit die Regierung des ungarischen Premierministers Viktor Orbán und seine FIDESZ-Partei an der Macht sind, hat die Europäische Kommission bei Hunderten von Anlässen unmittelbar bei Mitgliedstaaten interveniert (auf Englisch), um Einschnitte bei der Gesundheitsversorgung, den Renten und den Leistungen bei Arbeitslosigkeit durchzusetzen, sich für die Privatisierung öffentlicher Dienstleistungen einzusetzen und die Kollektivverhandlungsrechte einzuschränken. Angesichts eines Gesetzes vom 30. März, das unter dem Deckmantel des COVID-19-Notstands den Premierminister Ungarns ermächtigt, auf unbestimmte Zeit per Dekret zu regieren, bestehende Gesetze ausser Kraft zu setzen und Medienkritiker bis zu 5 Jahre ins Gefängnis zu schicken, kann die Präsidentin der Europäischen Kommission sich nicht einmal dazu durchringen, den Premierminister der betreffenden Regierung beim Namen zu nennen.

Als Zeitpunkt für die eskalierende Attacke auf die Demokratie ist ein Moment höchster Ablenkung gewählt worden. Während die Notstandsbefugnisse vordergründig als Reaktion auf die Viruskrise angenommen wurden, hat sich Orbán die Pandemie zunutze gemacht, um eine Reihe von Verordnungen zu erlassen, die mit COVID-19 nichts zu tun haben. Die Regierung hat Massnahmen verabschiedet, um die Steuereinnahmen von Städten, die von der Opposition regiert werden, zu beschneiden, und Vorschriften eingeführt, die es ermöglichen, im Arbeitsgesetzbuch und in Kollektivvereinbarungen vorgesehene Massnahmen zum Schutz der Beschäftigung auf unbestimmte Zeit auf Eis zu legen. Zu den derzeitigen gesetzgeberischen Prioritäten des Regimes gehören die Aberkennung der gesetzlichen Anerkennung von trans Personen und ein Gesetz zur Geheim-Einstufung von Informationen über die staatlichen Bauvorhaben, mit denen sich Orbán und seine Kumpane bereichert haben, für zehn Jahre.

Orbán ist nicht das einzige Staatsoberhaupt, das sich die Pandemie zunutze macht, um eine autoritäre Agenda zu verfolgen – Trump in den Vereinigten Staaten, Chinas Parteistaat, Bolsonaro in Brasilien, Erdoğan in der Türkei und der indische Premierminister Modi machen sich die Krise geschickt zunutze, und ihre Länder haben ein unvergleichlich grösseres globales Gewicht als Ungarn. Aber die Europäische Union ist die zweitgrösste Wirtschaftsmacht der Welt, die sich gemäss ihrer Verfassung zu Demokratie, Menschenrechten und, ja, ‘Solidarität’ bekennt.

Orbán hat im Zuge einer Abfolge von kalkulierten Provokationen systematisch ein ethno-nationalistisches autoritäres System aufgebaut. Die Massnahmen, die auf dem Weg zu einer Herrschaft per Notverordnung getroffen worden sind, haben nicht nur einfach die von Kommissionspräsidentin von der Leyen diskret beschworenen ‘Werte’ verletzt; sie stellten allesamt auch eklatante Verstösse gegen EU-Gesetze und -Verträge und die internationale Menschenrechtsgesetzgebung dar.

Eine kurze Aufzählung würde umfassen: Massnahmen, die zu Gewalt gegen die verarmte Roma-Bevölkerung des Landes und zu deren Diskriminierung ermutigen; die praktisch vollständige Ausschaltung von unabhängigen Medien; die Kontrolle des Justizsystems durch die Partei; Rechtsvorschriften zur Kriminalisierung von Asylbewerbern und sogar des Einsatzes für sie; Verweigerung der Verpflegung von Migranten, die in einer Grenzzone zwangsinterniert sind; Rechtsvorschriften, die NGOs, die finanzielle Unterstützung aus dem Ausland erhalten, dazu verpflichten, sich als ‘ausländische Agenten’ eintragen zu lassen; ein Gesetz, das 400 Stunden Überstundenarbeit pro Jahr mit einem Aufschub der Bezahlung bis zu 3 Jahren ermöglicht; aggressive staatliche Beförderung einer Verschwörungstheorie um ein von Juden finanziertes Komplott zur ‘Entchristianisierung’ Europas durch Migration, flankiert von einem Referendum; und eine weitgehende Neufassung der Verfassung und des Wahlgesetzes, um eine Kontrolle durch die Partei auf unbestimmte Zeit zu ermöglichen. Bei jeder neuen Attacke auf Rechte hat die EU einen Rückzieher gemacht; die ‘Mitte-rechts’-Europäische Volkspartei, die stärkste Fraktion im Europäischen Parlament, der auch von Leyens deutsche CDU angehört, kann sich nicht einmal dazu durchringen, die FIDESZ auszuschliessen.

Die vorauseilende Kapitulation vor Orbáns eskalierenden Attacken auf die Demokratie hat die polnische Partei Recht und Gerechtigkeit ermutigt, die die Medien und die Gerichte seit 2015 immer fester im Griff hat. Unter dem Deckmantel des Lockdown setzt die Regierung jetzt ihre Angriffe auf die reproduktiven Rechte der Frauen fort, die in gesünderen Zeiten durch Massenproteste auf den Strassen vereitelt wurden. Die autoritären Regierungen der beiden Länder stärken und schützen sich gegenseitig. Ein Vorgehen gegen eine kann nach den bestehenden, wirkungslosen Verfahren keinen Erfolg haben, es bedarf eines gleichzeitigen Vorgehens gegen die beiden Regierungen.

In einem Schreiben vom 1. April an die zuständigen EU-Behörden forderte EGB-Generalsekretär Luca Visentini ein sofortiges Vorgehen gegen das Notstandsgesetz, einschliesslich einer genaueren Prüfung der EU-Finanzierung für Ungarn. Die Initiative verdient Unterstützung. Sie kommt zu einer Zeit, da die Gewerkschaften vom Virus-Notstand und vom wirtschaftlichen Zusammenbruch überwältigt sind, sie ist aber dennoch dringend, insbesondere in Anbetracht der verstärkten autoritären Tendenzen, die im Zuge der Bemühungen der Welt um eine Erholung von der Pandemie bekämpft werden müssen.

Rechtliche Schritte gegen die Regierung Orbán beim Gerichtshof der Europäischen Union sind bisher wirkungslos geblieben; das Artikel 7-Verfahren, das die Aussetzung von Rechten der Mitgliedstaaten zur Folge haben kann, benötigt breite Unterstützung, an der es derzeit fehlt; und der Schaden für die Demokratie kann mit der Aufhebung eines einzigen Gesetzes nicht repariert werden. Die Zerstörung geht viel tiefer.

Seit 2010 hat die Finanzkrise der Eurozone eine Vielfalt von neuen Mechanismen und Institutionen zur Auferlegung und Durchsetzung von Sparmassnahmen hervorgebracht. Können wir nicht neue Mechanismen zur effektiven Eindämmung der Ausbreitung eines totalitären Virus verlangen? Die Gewerkschaften können sich für genau kalibrierte Massnahmen zur Isolierung der Regierung Orbán einsetzen und gleichzeitig den demokratischen Kräften, die gegen das rasche Schrumpfen ihres Raums innerhalb Ungarns ankämpfen, ein Höchstmass an Unterstützung gewähren.